Autorin

Dr. Katja Elbert
Gründerin und Beraterin

16.11.2025

Von Benchmarks zu Entscheidungen: Wie Organisationsdynamik klassische Beratung ergänzt

Der Artikel zeigt, wie Organisationsdynamik klassische Managementberatung dort ergänzt, wo gute Daten allein nicht zur Entscheidung führen – durch produktive Verunsicherung und die Fähigkeit, Spannungsfelder zu navigieren statt aufzulösen.

#Organisationsdynamik #Entscheidungsprozesse #Managementberatung

Der Vorstand hat drei Strategieoptionen auf dem Tisch. Alle sind gut begründet, die Daten belastbar, die Benchmarks eindeutig. Trotzdem dreht sich die Diskussion im Kreis. Jede Option hat Befürworter, jede hat Kritiker. Weitere Analysen werden angefordert, neue Meetings angesetzt.

Was hier sichtbar wird, ist kein Informationsproblem. Klaus Eidenschink und Ulrich Merkes haben es präzise beschrieben: Entscheidungen vernichten immer eine attraktive Alternative zugunsten der Möglichkeit, die realisiert wird. Sie basieren auf Konflikten zwischen gleichwertigen Optionen, bewirken einen Verlust, sind standpunktabhängig und erzeugen daher zwangsläufig Kritiker, die mit Recht anders hätten wählen wollen (vgl. Eidenschink/Merkes 2021).
Mehr Daten lösen dieses Problem nicht. Sie machen es manchmal sogar sichtbarer.

Was klassische Beratung leistet und wo ihre Grenze liegt

Klassische Managementberatung arbeitet nach einer klaren Logik: Benchmarks zeigen, wo die Organisation im Vergleich steht. Analysen identifizieren Schwachstellen. Konzepte liefern Best Practices. Das Ziel ist Optimierung: die Organisation näher ans Ideal bringen.

Diese Arbeit ist wertvoll. Sie schafft Klarheit über Optionen, quantifiziert Potenziale, strukturiert Komplexität. Sie beantwortet die Frage: Was könnten wir tun?

Die Grenze zeigt sich dort, wo eine andere Frage relevant wird: Wie entscheiden wir, was wir tun und wie gehen wir mit den Konsequenzen um?

Denn jede Entscheidung erzeugt Verlierer. Nicht nur zwischen Personen, sondern zwischen Perspektiven, Zeitlogiken, Qualitätsverständnissen. Stefan Kühl beschreibt das als Spannung zwischen formaler und informaler Seite der Organisation. Während formal neue Strategien verkündet werden, laufen informal häufig Entscheidungsmuster weiter, die der neuen Richtung widersprechen - nicht aus bösem Willen, sondern weil sie für einen Teil der Organisation funktional sind (vgl. Kühl 2020).

Die blinde Stelle: Organisationen sind Spannungsfelder

Hier setzt ein anderer Blick an: Organisationen sind keine Maschinen, die optimiert werden müssen. Sie sind Spannungsfelder, die navigiert werden wollen.

In jeder Organisation laufen parallel Entscheidungen, die einander widersprechen: Geschwindigkeit gegen Gründlichkeit. Vertrauen gegen Kontrolle. Außenorientierung gegen interne Optimierung. Beteiligung gegen Handlungsfähigkeit.
Das sind keine Fehler im System. Das ist die Architektur, in der Organisationen entscheiden.

Wer schnell sein will, kann nicht gleichzeitig gründlich sein. Wer vertraut, kontrolliert weniger. Wer alle beteiligt, entscheidet langsamer. Die neun Leitunterscheidungen, die Eidenschink und Merkes beschreiben, zeigen: Es gibt keine richtige Seite (vgl. Eidenschink/Merkes 2021). Es gibt nur unterschiedliche Preise, die man zahlt und die Frage, ob man diese Preise kennt.

Wo Organisationsdynamik klassische Beratung ergänzt

Organisationsdynamik ist keine Konkurrenz zur klassischen Beratung. Sie ergänzt dort, wo die Daten da sind, aber die Entscheidungsfähigkeit fehlt.
Ein Beispiel: Die neue Strategie ist kommuniziert, die Strukturen angepasst, die Prozesse definiert. Sechs Monate später bewegen sich die Kennzahlen nicht. Klassische Beratung reagiert häufig mit Prozessoptimierung oder verstärkter Kontrolle.

Organisationsdynamik fragt: Was ist die funktionale Logik dessen, was hier passiert?

Kühl zeigt, dass viele Organisationen funktionieren, weil Regeln situationsgerecht verletzt werden. Diese Regelabweichungen sind keine Pathologie, sondern Teil der Kultur - so stark verankert, dass Mitglieder informale Erwartungen enttäuschen, wenn sie sich nicht daran beteiligen (vgl. Kühl 2020). Wer das formalisieren will, zerstört häufig genau die Flexibilität, die die Organisation am Laufen hält.
Die Kunst liegt darin, den Status quo so zu beschreiben, dass er Sinn ergibt, auch wenn er dysfunktional erscheint. Welche Spannungen hält das aktuelle Muster aus? Welche Entscheidungen werden vermieden und warum? Welche Konflikte werden durch die bestehende Struktur produktiv gehalten?

Unsicherheit als Ressource

In dynamischen Umwelten sind daher Unsicherheitsbereitschaft und -toleranz die wichtigsten Fähigkeiten. Nicht mehr Wissen (vgl. Eidenschink/Merkes 2021; Eidenschink 2024).

Das hat Konsequenzen für Beratung und Management: Wer Veränderung will, muss einen Weg finden, dass die Organisation dort wieder Unsicherheit zulässt, wo bislang mit Gewissheit operiert wurde. Bestätigung allein - so eingängig sie ist - setzt die Vergangenheit in die Zukunft fort. Sie bringt keine neuen Alternativen ins Spiel. Der Gedanke „Könnte es auch anders sein?" wird ausgeschlossen (vgl. Eidenschink 2024: Kap. 23).

Das bedeutet nicht, alles in Frage zu stellen. Es bedeutet: Regulation statt Festlegung. Die Fähigkeit, zwischen Polen zu oszillieren – von Moment zu Moment, kontextabhängig. Nicht „das Eine oder das Andere", sondern die Kompetenz, situativ zu entscheiden, welche Seite einer Spannung gerade Vorrang haben soll. Und das zu kommunizieren.

Von Benchmarks zu Entscheidungen

Klassische Beratung und Organisationsdynamik beantworten unterschiedliche Fragen. Die eine fragt: Was könnten wir tun? Die andere fragt: Wie entscheiden wir, was wir tun und wie gehen wir mit den Konsequenzen um?

Beide Perspektiven brauchen einander. Benchmarks ohne Entscheidungsfähigkeit bleiben folgenlos. Entscheidungsfähigkeit ohne Optionen bleibt blind.

Die Frage ist nicht: Entweder Optimierung oder Dynamik. Die Frage ist: Wann braucht es welche Perspektive und wer kann zwischen ihnen vermitteln?


Literatur

  • Eidenschink, Klaus (2024): Das Verunsicherungsbuch. Für alle, die es gern sicher haben. Heidelberg: Carl-Auer.
  • Eidenschink, Klaus / Merkes, Ulrich (2021): Entscheidungen ohne Grund. Organisationen verstehen und beraten. Eine Metatheorie der Veränderung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
  • Kühl, Stefan (2020): Brauchbare Illegalität. Vom Nutzen des Regelbruchs in Organisationen. Frankfurt/New York: Campus.