Autorin

Dr. Katja Elbert
Gründerin und Beraterin

10.11.2025

Das systemische Wörterbuch für Praktiker (die keine Wörterbücher mögen)

Was „Muster", „Widerstand" und „funktional" wirklich bedeuten.

#Organisationsdynamik #Entscheidungsprozesse #Managementberatung

„Das ist ein typisches Muster", sagt die Beraterin. Der Vorstand nickt wissend. Die zweite Führungsebene auch. Alle nicken. Nur: Was genau meint sie mit „Muster"? Und warum spricht sie von „funktional", wenn offensichtlich nichts funktioniert?

Systemische Beratung hat ein Kommunikationsproblem. Nicht, weil die Konzepte zu komplex wären, sondern weil wir eine Sprache nutzen, die präzise ist, aber häufig unverstanden bleibt. Wir wollen Klarheit schaffen und produzieren dabei neue Verwirrung.

Zeit für eine Übersetzung. Ohne akademisches Geschwurbel, ohne Vereinfachung. Mit der Klarheit, die Sie vom nächsten Board-Meeting erwarten würden.

Die Paradoxie der Fachsprache

Jede Disziplin hat ihre eigene Sprache. Controlling spricht von EBITDA, Marketing von Conversion Rates, IT von APIs. Das funktioniert, solange alle im selben System unterwegs sind.

Systemische Beratung bewegt sich zwischen den Welten. Wir übersetzen zwischen Strategie und Struktur, zwischen formal und informal, zwischen dem, was gesagt wird, und dem, was passiert.

Dabei nutzen wir Begriffe, die alltäglich klingen, aber spezifisch gemeint sind:

  • „Muster" ist nicht irgendeine Wiederholung.
  • „Widerstand" ist keine Blockadehaltung.
  • „Konflikt" ist keine Störung.

Diese Begriffe beschreiben präzise das, was in Organisationen wirklich passiert - jenseits der PowerPoint-Realität.

15 Begriffe, die helfen, Organisationen zu verstehen

I. Was immer da ist: Die Grundspannungen

Spannung

Organisationen navigieren permanent zwischen Polen, die sich nicht auflösen lassen: regelgerecht und situationsgerecht, gründlich und schnell, zentral und dezentral. Diese Spannungen sind keine Inkonsistenzen, sondern Dauerzustände. Die Frage ist nicht, welche Seite richtig ist, sondern wie Sie situativ zwischen ihnen navigieren.

Paradoxie

Unentscheidbare Fragen, bei denen beide Seiten sich logisch ausschließen, aber gleichzeitig realisiert werden müssen. Sie fordern Innovation und belohnen Konformität. Sie wollen Geschwindigkeit und Qualität. Wer Paradoxien auflösen will, erzeugt neue (vgl. Simon 2023).

Der produktive Umgang: Entfalten statt entscheiden - je nach Situation mal die eine, mal die andere Seite betonen. Paradoxien weisen auf die Grenzen unserer Wirklichkeitskonstruktionen hin; sie verschwinden nicht, sie tauchen an anderer Stelle wieder auf (vgl. Richter/Groth 2025).

Konflikt

Ein Prozess, der zur Entscheidung zwingt. Konflikte entstehen, sobald eine Negation negiert wird (vgl. Simon 2022): „Lass uns ins Kino gehen." - „Nein, lieber fernsehen." - „Nein, Kino ist besser." Schon haben wir einen Konflikt.

Der Konflikt zwischen Vertrieb und Produktion ist keine Störung, sondern die notwendige Auseinandersetzung darüber, wie heute priorisiert wird. Konflikte machen sichtbar, dass es verschiedene Wege gibt und unterbrechen das normale Weiter-so, bis entschieden ist: Was gilt jetzt?

II. Wie Organisationen ticken: Die Strukturlogik

Muster

Sich wiederholende Reaktionen, die durch die Struktur der Organisation wahrscheinlich gemacht werden. Jede Krise führt zu mehr Kontrolle, mehr Kontrolle zu weniger Initiative, weniger Initiative zur nächsten Krise. Die Organisation wiederholt nicht, weil sie dumm ist, sondern weil ihre Struktur genau diese Wiederholung begünstigt.

Muster sind Folgen und Inszenierungen von Paradoxien, die durch ihre musterhafte Bearbeitung unsichtbar bleiben (vgl. Richter/Groth 2025).

Funktional/Dysfunktional

Kein objektives Urteil, sondern eine Frage der Perspektive: Funktional wofür, für wen? Langsame Entscheidungsprozesse sind dysfunktional für die Fachabteilung, hochfunktional für den Vorstand, der Risiken abwägen muss. Was in einem Teil des Systems funktioniert, kann in einem anderen stören und umgekehrt.

Die Kunst liegt darin, diese unterschiedlichen Funktionalitäten gleichzeitig zu sehen.

System/Umwelt

Die Grenze, die entscheidet: Was gehört dazu, was nicht? Was ist unser Thema, was nicht? Ihre Organisation ist nicht das Gebäude oder die Menschen. Sie ist die Unterscheidung zwischen innen und außen (vgl. Simon 2023).

Diese Grenze ist nicht räumlich, sondern operational: Was reproduziert das System, was bleibt draußen? Die Antwort auf diese Frage bestimmt, worauf die Organisation reagiert und worauf nicht.

Formal/Informal

Die formale Seite: Was im Organigramm steht, was offiziell gilt, wessen Nicht-Beachtung die Mitgliedschaft gefährdet.

Die informale Seite: Wer wirklich mit wem spricht, wie Dinge tatsächlich entschieden werden, was „man hier so macht".

Stefan Kühl nennt das die „brauchbare Illegalität" (vgl. Kühl 2020). Regelabweichungen, die für die Organisation funktional sind, obwohl sie formal nicht vorgesehen sind.

Die Organisation braucht beides: klare Regeln und situative Flexibilität. Der bürokratische Teufelskreis entsteht, wenn man versucht, alle Informalität durch mehr Regeln zu beseitigen.

Entscheidungsprämissen

Entscheidungen, die alle weiteren Entscheidungen rahmen, bevor überhaupt entschieden wird (vgl. Luhmann 2000). Die Unternehmensstrategie, die Rechtsform, die Hierarchie, wer eingestellt wurde - all das schränkt ein, was überhaupt als Option erscheint.

Wer Entscheidungen ändern will, muss häufig die Prämissen ändern, die diesen Entscheidungen vorausgehen. Programme, Kommunikationswege und Personal sind die drei klassischen Hebel.

Strukturelle Kopplung

Wie operational geschlossene Systeme trotzdem aufeinander bezogen sind (vgl. Simon 2023). Die IT kann die Fachabteilung nicht zwingen, das neue System zu nutzen, aber sie kann Bedingungen schaffen, die es wahrscheinlicher machen. Systeme irritieren sich gegenseitig, doch jedes verarbeitet diese Irritation nach seiner eigenen Logik. Veränderung lässt sich von außen induzieren, nicht jedoch zielgerichtet festlegen.

Resonanz

Wie Systeme auf Impulse aus der Umwelt reagieren - nach ihrer eigenen Logik, nicht nach Ihrer Absicht. Sie können eine Reorganisation anstoßen, aber wie die Organisation darauf antwortet, entscheidet ihre Struktur, nicht Ihr Plan.

Irritation ist möglich, Steuerung nicht. Das ist keine Einschränkung, sondern der Normalfall: Systeme sind strukturdeterminiert.

III. Wie wir beobachten: Die Erkenntnisebene

Kontext

Die erste Unterscheidung, die bestimmt, worüber wir überhaupt sprechen. „Wir müssen effizienter werden" bedeutet in der Produktion etwas anderes als im F&E-Bereich. Ohne Kontext keine sinnvolle Kommunikation. Wer den Kontext nicht klärt, redet aneinander vorbei, auch wenn alle dieselben Worte nutzen.

Komplexität

Wenn ein Beobachter das Beobachtete nicht vollständig durchschauen kann (vgl. Richter/Groth 2025). Wenn die gleiche Maßnahme mal wirkt, mal nicht. Wenn Ursache und Wirkung sich gegenseitig bedingen. Das ist der Normalzustand in Organisationen, und der Grund, warum einfache Lösungen häufig nicht funktionieren.

Komplexität ist dabei immer eine Beziehungsqualität: Was für die Schachgroßmeisterin eine einfache Stellung ist, mag für den Anfänger undurchschaubar sein.

Blinde Flecken

Entstehen zwangsläufig durch jede Beobachtung. Wer auf Zahlen fokussiert, übersieht die Dynamiken zwischen Menschen. Wer Prozesse optimiert, übersieht die Kultur. Wer die Strategie schärft, übersieht die informalen Strukturen.

Nicht aus Unvermögen, sondern weil jede Unterscheidung automatisch etwas anderes ausblendet. Die Komplexitätsreduktion, die Orientierung erst ermöglicht, erzeugt gleichzeitig neue Unsichtbarkeiten.

IV. Warum Wandel schwer ist: Die Veränderungsdynamik

Widerstand

Keine Bockigkeit, sondern Systemstabilität in Aktion. Das System schützt sich vor zu schneller Veränderung. Was wie Widerstand aussieht, ist häufig der Versuch, Bewährtes zu erhalten, während Neues integriert wird.

Die Frage ist nicht: Wie brechen wir den Widerstand? Sondern: Was schützt das System gerade und ist das vielleicht berechtigt?

Widerstand ist Information darüber, welche Funktionen durch die geplante Veränderung gefährdet werden.

Pfadabhängigkeit

Frühere Entscheidungen begrenzen heutige Optionen. Wer einmal SAP eingeführt hat, wird nicht einfach zu einem anderen System wechseln. Wer eine Matrixorganisation etabliert hat, kann nicht ohne Weiteres zur Linienorganisation zurück.

Die Vergangenheit wirkt in die Gegenwart, nicht als Schicksal, aber als Bedingung. Das erklärt, warum Organisationen sich mit Veränderungen schwertun: Die „Erzeugnisse" an einer Stelle lassen sich häufig nicht ohne Änderungen an anderer Stelle variieren (vgl. Eidenschink/Merkes 2021).

Die Einladung zur anderen Perspektive

In der Beratungspraxis zeigt sich häufig: Sobald Führungskräfte diese Perspektive einnehmen, verändert sich der Blick auf festgefahrene Situationen.

Probleme werden zu Informationen. Störungen zu Hinweisen auf übersehene Funktionen. Paradoxien zu Gestaltungsräumen.

Systemische Sprache ist kein Selbstzweck. Sie ist ein Werkzeug, um zu sehen, was sonst unsichtbar bleibt und um die Widersprüche besprechbar zu machen, die alle spüren, aber selten jemand benennt.

Sie müssen nicht alle Begriffe auswendig lernen. Aber vielleicht nehmen Sie eine Frage mit:

Welches „dysfunktionale" Verhalten in Ihrer Organisation ist eigentlich hochfunktional, nur eben für einen anderen Teil des Systems?

Und was würde passieren, wenn Sie diese Funktionalität ernst nehmen, statt sie zu bekämpfen?

Das ist der Anfang systemischen Denkens: Die Erkenntnis, dass in Organisationen vieles gleichzeitig richtig ist. Auch wenn es sich widerspricht. Gerade dann.


Quellenverzeichnis

  • Eidenschink, Klaus / Merkes, Ulrich (2021): Entscheidungen ohne Grund. Organisationen verstehen und beraten. Eine Metatheorie der Veränderung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
  • Kühl, Stefan (2020): Brauchbare Illegalität. Zum Nutzen des Regelbruchs in Organisationen. Frankfurt a.M./New York: Campus.
  • Luhmann, Niklas (2000): Organisation und Entscheidung. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
  • Richter, Timm / Groth, Torsten (2025): Zwischen Inszenierung und Invisibilisierung. Systemisches Paradoxiemanagement in Organisationen. Heidelberg: Carl-Auer.
  • Simon, Fritz B. (2022): Einführung in die Systemtheorie des Konflikts. 5. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer.
  • Simon, Fritz B. (2023): Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus. 10. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer.