Ich sitze in einem Meetingraum, irgendwo in Deutschland. An der Wand hängen vier kunstvoll gestaltete Poster: „Vertrauen“ steht auf einem, „Mut“ auf dem nächsten, dann „Wertschätzung“ und „Exzellenz“. Die Gestaltung ist hochwertig, vermutlich hat eine Agentur daran gearbeitet.
Im selben Raum erzählt mir mein Gesprächspartner - ein erfahrener Bereichsleiter - von einer Reorganisation, die gerade ohne jede Einbindung der Betroffenen durchgezogen wird. Auf meine Nachfrage zu den Postern zuckt er mit den Schultern und lächelt müde.
Diese Szene habe ich in Variationen dutzende Male erlebt. Die Poster wechseln, die Werte klingen ähnlich, und der Zynismus der Menschen, die darunter arbeiten, ist erstaunlich konstant.
Was auf den ersten Blick wie ein Kommunikationsproblem aussieht - „die Werte werden halt nicht richtig gelebt“ -, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als strukturelles Muster. Eines, das mit gutem Willen allein nicht zu lösen ist.
Drei Seiten, die jede Organisation hat
Organisationen bestehen nicht nur aus dem, was im Organigramm steht. Der Organisationssoziologe Stefan Kühl unterscheidet drei Seiten, die in jeder Organisation gleichzeitig existieren (vgl. Kühl 2020a).
Die erste Seite ist die Formalstruktur: alles, was offiziell entschieden wurde. Hierarchien, Stellenbeschreibungen, Prozesse, Kommunikationswege. Diese Seite ist dokumentiert. Sie lässt sich in Handbüchern nachlesen und in Präsentationen zeigen.
Die zweite Seite ist die informale Struktur, das, was Kühl als Organisationskultur im engeren Sinne versteht. Hier finden sich die ungeschriebenen Gesetze, die kurzen Dienstwege, die Erwartungen, die sich in die Lücken der formalen Struktur geschmiegt haben. Niemand hat sie beschlossen, aber alle kennen sie. Sie entstehen wie Trampelpfade in einem Park: nicht durch Planung, sondern durch wiederholte Nutzung (vgl. Kühl 2020b).
Die dritte Seite ist die Schauseite. Sie besteht aus allem, was der Legitimation nach außen dient: Leitbilder, Werte-Statements, Leadership Principles, Purpose-Formulierungen. Diese Seite ist wichtig für Arbeitgebermarke, Investorenkommunikation und gesellschaftliche Akzeptanz. Aber sie hat kaum Steuerungswirkung nach innen.
Die Werte-Poster im Meetingraum gehören zur Schauseite. Nicht zur gelebten Kultur.
Warum Leitbilder nicht steuern können
Das ist keine zynische Behauptung, sondern lässt sich strukturell erklären. Werte wie „Vertrauen“, „Respekt“ oder „Integrität“ haben einen entscheidenden Vorteil: Sie sind konsensfähig. Wer würde schon dagegen argumentieren?
Genau das macht sie allerdings untauglich für konkrete Verhaltenssteuerung. Solange Werte abstrakt bleiben, kann sich jeder darunter etwas vorstellen und jeder etwas anderes. Sobald sie konkret werden müssten, zeigen sich sofort die realen Widersprüche der Organisation.
Was bedeutet „Vertrauen“ konkret, wenn gleichzeitig engmaschige Kontrollen eingeführt werden? Wie passt „Wertschätzung“ zu einer Reorganisation ohne Einbindung? Die Werte geben darauf keine Antwort, weil sie nicht dafür gemacht sind.
Werte haben hohe Konsenschancen gerade deshalb, weil sie unverbindlich bleiben (vgl. Luhmann 1972). Man einigt sich schnell darauf, dass Menschenrechte, Umweltschutz und Gerechtigkeit wichtig sind. Aber diese Einigung hat wenig Aussagekraft für die nächste konkrete Entscheidung.
Heuchelei ist funktional, aber nicht kostenlos
Hier wird es unbequem. Die Organisationsforschung zeigt: Jede Organisation braucht ihre Schauseite. Jedes Unternehmen, jede Verwaltung, jedes Krankenhaus ist darauf angewiesen, eine geschönte Darstellung ihrer selbst zu präsentieren (vgl. Brunsson 1989; Kühl 2020a). Das ist kein moralisches Versagen, sondern notwendige Legitimationsarbeit.
Der wissenschaftliche Begriff dafür klingt hart: Heuchelei.
Heuchelei in diesem Sinne bedeutet: Die Organisation weiß, dass sie nicht konsequent nach den proklamierten Standards funktionieren kann. Sie hält den moralischen Standard als Teil der Schauseite aufrecht, duldet aber intern erhebliche Abweichungen davon. Das ist zunächst einmal funktional. Es ermöglicht der Organisation, gleichzeitig legitimiert zu sein und handlungsfähig zu bleiben.
Problematisch wird es, wenn Organisationen von allen Mitarbeitenden lautstarke Bekenntnisse zu diesen Werten verlangen. Wenn in Workshops zur „Fehlerkultur“ offiziell signalisiert wird, dass jetzt alles offen besprochen werden kann, während inoffiziell sehr genaue Normen darüber herrschen, was gesagt werden darf und was nicht. Wenn Integrität zur Karriereformel wird: Man muss sich bekennen, um voranzukommen, unabhängig davon, ob das Bekenntnis Konsequenzen für das eigene Handeln hat (vgl. Kühl 2020b).
Zynismus ist kein Charakterdefizit
Der Zynismus, den ich bei Mitarbeitenden erlebe, ist kein individuelles Phänomen. Wenn die Kluft zwischen Schauseite und gelebter Realität zu groß wird, entstehen typische Muster.
Das erste Muster ist eine Flucht in die Abstraktion. In Veranstaltungen zu Werten und Kultur feiert man gemeinsam die hehren Prinzipien, weil konkrete Themen zu heikel wären. Man kann sich ohne Risiko dazu bekennen, dass „Zutrauen demonstriert“ und „Eigeninitiative gestärkt“ werden muss. Solche Formulierungen kosten nichts und bedeuten wenig.
Das zweite Muster sind Zensureffekte. Allen ist bewusst, dass es eine offizielle und eine inoffizielle Agenda gibt. Auf Workshops zum Qualitätsmanagement wissen alle, dass Erfolgsmeldungen erwartet werden. Wer strukturelle Probleme offen anspricht, bekommt Druck - nicht nur von der Führung, sondern häufig auch von Kollegen, die die ungeschriebenen Regeln besser kennen (vgl. Kühl 2020b).
Das dritte Muster ist informale Gegenwehr. Während formal aufgesetzte Kulturprogramme Bekenntnisse zur offiziellen Moral einfordern, wird solches Verhalten außerhalb dieser Formate nicht selten moralisch verurteilt. Die Begriffe dafür sind wenig schmeichelhaft, aber sie existieren in fast jeder Organisation.
Der Zynismus der Mitarbeitenden ist die informale Antwort auf formale Moralüberhöhung. Er schützt vor der kognitiven Dissonanz zwischen Poster und Praxis. Er ist ein Symptom, kein Defizit.
Was stattdessen wirkt: Struktur statt Appell
Die gute Nachricht: Organisationskultur lässt sich beeinflussen. Nur eben nicht durch Poster, Workshops oder Culture Journeys. Der Hebel liegt woanders.
Kultur im systemischen Sinne, also die informale Struktur, die sich aus wiederholten Interaktionen bildet, reagiert auf Veränderungen der Formalstruktur. Wenn Sie andere Hierarchien etablieren, andere Programme aufsetzen, andere Personalentscheidungen treffen, verändern Sie die Bedingungen, unter denen sich informale Muster bilden.
Sie können nicht direkt bestimmen, welche Kultur entsteht. Aber Sie können beeinflussen, welche Verhaltensweisen wahrscheinlicher werden (vgl. Kühl 2018).
Die Frage ist dann nicht mehr: „Wie bekommen wir unsere Werte in die Köpfe?“ Sondern: „Welche strukturellen Bedingungen machen welches Verhalten naheliegender?“
Das ist weniger inspirierend als ein neues Leitbild. Aber es hat Aussicht auf Wirkung.
Die besseren Fragen
Zurück zum Meetingraum. Was würde es bedeuten, die Werte-Poster nicht als Steuerungsinstrument zu behandeln, sondern als das, was sie sind: Legitimationsfassade für die Außenwelt?
Es würde bedeuten, ehrlicher hinzuschauen: Welche informalen Muster haben sich in dieser Organisation tatsächlich etabliert? Nicht die, die auf Postern stehen - die, die im Alltag wirksam sind. Welche Funktion erfüllen sie? Was würde passieren, wenn man sie änderte? Und welche Veränderungen der Formalstruktur würden welche Musterveränderungen wahrscheinlicher machen?
Diese Fragen sind unbequemer als ein Workshop zur Werteentwicklung. Sie führen nicht zu einem neuen Poster. Aber sie führen möglicherweise zu Veränderungen, die man tatsächlich bemerkt - jenseits der Meetingraumwand.
Organisationskultur lässt sich nicht verordnen, aber die Bedingungen ihrer Entstehung lassen sich gestalten.
Organisationskultur lässt sich nicht verordnen, aber die Bedingungen ihrer Entstehung lassen sich gestalten. Wenn Sie herausfinden möchten, welche Muster in Ihrer Organisation tatsächlich wirksam sind, sprechen Sie mit uns.
Quellen
- Brunsson, Nils (1989): The Organization of Hypocrisy. Talk, Decisions and Actions in Organizations. Chichester: Wiley.
- Kühl, Stefan (2018): Organisationskulturen beeinflussen. Eine sehr kurze Einführung. Wiesbaden: Springer VS.
- Kühl, Stefan (2020a): Organisationen. Eine sehr kurze Einführung. Wiesbaden: Springer VS.
- Kühl, Stefan (2020b): Brauchbare Illegalität. Zum Nutzen des Regelbruchs in Organisationen. Frankfurt a. M./New York: Campus.
- Luhmann, Niklas (1972): Rechtssoziologie. Reinbek: Rowohlt.